Nachruf auf Helga Grebing


Sozialdemokratie

Nachruf auf Helga Grebing: Tod einer Überzeugten

Klaus-Jürgen Scherer26. September 2017
Mit ihrer Erfahrung und ihrem umfangreichen Wissen wurden die Arbeiterbewegung und die großen sozialen und ideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts lebendig. Im Alter von 87 Jahren ist Helga Grebing gestorben.
Ihre „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ wurde zum Standardwerk: Mit Helga Grebing ist am Montag die bedeutendste sozialdemokratische Historikerin gestorben. Ein persönlicher Nachruf
Mit Helga Grebing ist am 25. September 2017 im Alter von 87 Jahren die bedeutendste sozialdemokratische Historikerin und beeindruckende Zeitzeugin, vor allem der Nachkriegszeit, von uns gegangen. Bis zuletzt war Helga unermüdlich unterwegs und hat sich wissenschaftlich und geschichtspolitisch engagiert. Mit ihrer Erfahrung und ihrem umfangreichen Wissen wurden die Arbeiterbewegung und die großen sozialen und ideologischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts lebendig. Dabei hielt sie fest an einem freiheitlichen und demokratischen Sozialismus, verlor nicht die Überzeugung, dass eine Gesellschaft der Gleichen und Freien jenseits des Kapitalismus möglich und notwendig ist.

Ihr war wichtig, kritisch zu differenzieren

Ihre Beiträge waren eine Bereicherung jeder Debatte von der Historischen Kommission der SPD bis zur Halbjahreszeitschrift der perspektivends, die sie mit herausgab. Gerade im letzten Jahrzehnt, nach ihrem Umzug nach Berlin war sie mit ihrer liebenswerten Offenheit, mit immer neuen Projekten und Büchern, bei vielen Diskussionen und Veranstaltungen präsent.

Ich wusste von Helga Grebing, die zunächst in der politischen Bildung tätig war, bereits 1974 zu meinem Abitur. Ihre 1966 erstmals erschienene, wissenschaftliche Darstellung der „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ war als dtv-Taschenbuch Teil meiner Abiturprüfung eines mittlerweile fortschrittlichen Gymnasiums geworden. Im Vorwärtsbuch-Verlag schrieb sie 2007 eine neue „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert“: ein Standardwerk unserer Geschichte und unseeres Selbstverständnisses, im politischen Alltag viel zu wenig beachtet!

Ein zweifach wichtiges Buch: Um in der Debatte mit der postkommunistischen Geschichtsschreibung zu bestehen, aber auch um dem drohenden Geschichtsverlust entgegenzuwirken. Ohne zu wissen, woher wir kommen, kann man nicht wissen, wohin man will – die 20,5 Prozent der Bundestagswahl, die Helga nicht mehr erleben musste, dürften auch mit dem Verblassen der sozialsdemokratischen Erzählung zu tun haben. Helga kam es immer darauf an, kritisch zu differenzieren, nicht nur einfach immer das richtig zu finden, was sich durchsetzte. Auch in der Geschichte der Arbeiterbewegung gab es immer Alternativen, waren Niederlagen selbstverschuldet, gilt es an heftige Debatten, unterschiedliche Strömungen und vergessene Vordenker zu erinnern.

Das „Nie Wieder!“ war lebenslanger Bezugspunkt

Natürlich war Helga Grebings Jugend in der Nazizeit, das „Nie Wieder!“ lebenslang Bezugspunkt. So war Helga Autorin des mit dem Dritten Reich abrechnenden Standardwerkes „Nationalsozialismus. Ursprung und Wesen“ (Erstauflage 1959), später von „Arbeiterbewegung und Faschismus“ (1990) oder von „Das andere Deutschland im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“ (1994).  Ihre Publikationsliste ist zu lang, um ihr hier gerecht zu werden.

Helga wurde 1971 Professorin für Politische Wissenschaften an der Universität Frankfurt am Main und dann 1972 Professorin für Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Universität Göttingen. 1988 wechselte sie an die Ruhr-Universität Bochum und übernahm dort bis zu ihrer Emeritierung 1995 eine Professur für vergleichende Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung und sozialen Lage der Arbeiterschaft und leitete dort das „Institut zur Erforschung der Internationalen Arbeiterbewegung“.

Publikationen statt Ruhestand

Statt Ruhestand folgten nach der Emeritierung weitere wichtige Publikationen. Ich nenne nur aus dem 21. Jahrhundert: ihre Mitarbeit an der umfangreichen „Berliner Ausgabevon Willy Brandt, die wohl einfühlsamste Brandt-Biographie „Der andere Deutsche“, an die Doppelbiographie „Die Worringers“ und ihre eigenen autobiographischen Erinnerungen „Freiheit, die ich meinte. Erinnerungen an Berlin“, sowie an „Fritz Sternberg: Der Dichter und die Ratio. Erinnerungen an Bertolt Brecht“. Von den mannigfachen weiteren Essays und Texte zur Politikgeschichte, Sozial-, Ideen- und Kulturgeschichte ganz zu schweigen.

In ihrem letzten Lebensjahr konnte ich Helga bei der Fertigstellung ihres letzten, soeben bei Schöningh erschienenen, Buches behilflich sein: „Streiten für eine Welt jenseits des Kapitalismus. Fritz Sternberg – Wissenschaftler, Vordenker, Sozialist“. Den 1963 gestorbenen Sternberg als Inspirator für eine Politik „links der Mitte“ wiederzuentdecken und ihn neu zu lesen: angesichts des wieder globalen krisenhaften Kapitalismus, von seinen neuen vor allem ökologischen Grenzen, angesichts der neuen technologischen Revolution und von mehr Ungleichheit und erneut autoritär-faschistischen Tendenzen – darum ging es Helga, das hielt sie so lange noch fit.

Dem Demokratischen Sozialismus verpflichtet

Wie ihr wissenschaftlicher Lehrer Sternberg, dessen Nachlass sie gemeinsam mit ihrer Partnerin, der 1998 gestorbenen Witwe Lucinde Worringer-Sternberg, verwaltete, trat Helga Grebing immer für einen Demokratischen Sozialismus ein, der die freiheitliche Tradition der Sozialdemokratie konsequent mit Gerechtigkeits- und Gleichheitswerten verbindet (auch der Gleichberechtigung der Geschlechter!). Der Anpassung an Zeitgeist und wirtschaftsliberale Ideologien widersprach sie vehement. Ein bloß „guter Kapitalismus“, was ja immerhin auch schon etwas wäre, war ihr zu wenig, an das Ende der Geschichte wollte sie nie glauben. Über Sternbergs undogmatische Interpretationen des Marxismus nachzudenken, auch das sollte nach ihrem Willen ein Beitrag zum Marx-Jahr 2017/18 sein.

Einmal auf einer Tagung der „Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus“ reichte mir Helga einen kleinen handschriftlichen Zettel, den ich aufhob: „Wenn wir so weiterdiskutieren wie jetzt, kommt der Sozialismus nie!“ Was sagt uns das: Sie hatte Humor. Sie konnte eitle professorale Selbstdarsteller, die nicht auf den Punkt kommen, nicht ausstehen. Und vor allem: eine Weltgesellschaft der Zukunft, in der Strukturen von Macht und Geld nicht immer wieder alle zivilisatorischen Errungenschaften gefährden, eben ein freiheitlicher Sozialismus, war ihr Bezug geblieben.

Für den 18. Oktober war mt Helga Grebing die Vorstellung des Sternberg-Buches im Berliner DGB-Haus mit Gewerkschaftschef Reiner Hoffmann geplant. Diese Veranstaltung wird so nicht mehr stattfinden können. In einigen Wochen wird Helga Grebing in München im Grab von Sternberg und den Worringers ihre letzte Ruhe finden.